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Mit Feder und Schreibmaschine

Norbert Hummelt liest Anekdoten aus 1922. Wunderjahr der Worte


Montagabend, Foyer des Marburger TTZ. Norbert Hummelt, Dichter, Übersetzer und Kulturjournalist, lauscht, lässig über das Rednerpult gebeugt, den Ausführungen des Moderators Manfred Paulsens zu seiner Person. Lächeln und dabei zustimmend nicken, das scheint heute ein freundschaftlich-entspannter Wurf zu werden. In derselben Manier geht es gleich weiter. Bevor der erste vorgelesene Satz seinen Mund verlässt, kramt Hummelt noch kurz in seinem Rucksack – Handy ausschalten, „weil ich hab ja jetzt keine Zeit.“ Möglich, dass das auch sein Leitmotiv im Schreibprozess des erzählenden Sachbuchs 1922. Wunderjahr der Worte war, das aus naheliegenden Gründen im Laufe des letzten Jahres erscheinen musste. Wie der Titel des Werkes bereits verrät, ist es der chronologische Versuch, das Jahr 1922 in all seinen Facetten einzufangen – und wie viel gibt es da zu beschreiben: die „Entdeckung“ des Grabes von Tutanchamun, die Spanische Grippe, Sturmflut bei Sylt und Hungersnot in Russland, Hans Riegel erfindet in Bonn die Haribos, der 1. FC Nürnberg und der Hamburger SV spielen vergeblich um einen Meisterschaftstitel und Lenin wird eine Kugel aus dem Hals operiert, die dort seit dem Attentat von 1918 feststeckte. So gesehen hat der Autor eine ganze Menge Zeit, wenn er an diesem Abend vor Publikum liest. Gut verschnürt steckt sie zwischen zwei Buchdeckeln und tut die Zeit, die es gebraucht haben muss, sie dort unterzubringen, mit einem Achselzucken ab.


Norbert Hummelt (re.) und Manfred Paulsen (li.)


Eigentlich wollte er eine Essaysammlung veröffentlichen, gesteht der Autor, habe sich dann aber nicht auf eine Reihenfolge der einzelnen Texte festlegen können. Stattdessen ist eine Chronologie der Gleichzeitigkeit entstanden, oder, wie er es ausdrücken würde: „Gleichzeitig über Dinge nachdenken, die überhaupt nichts miteinander zu tun haben, während man ein Schnitzel isst oder jemandem ins Gesicht lügt.“ Dass die Dinge dann trotzdem so einiges miteinander zu tun haben, liegt daran, dass Hummelt das Jahr 1922 durch eine literarische Brille betrachtet. Er beobachtet Rainer Maria Rilke dabei, wie er seine zehnjährige Schreibblockade überwindet und die Duineser Elegien fertigstellt, freut sich gemeinsam mit James Joyce über die Ersterscheinung von Ulysses, sieht zu, wie Ezra Pound T. S. Eliots Waste Land lektoriert und Ernest Hemingway in einen Boxkampf verwickelt. 1922 versteht Hummelt tatsächlich als Wunderjahr der Worte, als Initiator einer „Wendung im Denken, einer Wendung in der Sprache“, welche die literarische Moderne in der Ambivalenz ihrer Anfangsphase auf den Punkt bringt. Während Rilke in den Elegien mit der Schreibfeder einen rückwärtsgewandten Stil pflegt, verkörpert Joyce mit Ulysses den Aufbruch in neue Gefilde – und Eliot tippt auf der Schreibmaschine. „Alles ist so modern und wir gucken alle nur nach vorn – es stimmt ja doch nicht“, bemerkt Hummelt. „Je jünger man ist, desto einleuchtender erscheint einem die Avantgarde, mich hat aber immer auch das Gegenteil interessiert.“


Was das Publikum nun interessiert, ist vor allem die Frage nach den Frauen, nach den Autorinnen des Jahres 1922. Ob er Virginia Woolf und Katherine Mansfield im Rahmen seiner Ausführungen tatsächlich relevant finde oder sich ihre Daseinsberechtigung im Status der „Quotenfrau“ erschöpfe, will eine Zuhörerin wissen. Darauf Hummelt: „Das war schon etwas, woran meine Lektorin Interesse hatte.“ Während er sich mit Joyce und Eliot bereits während seines Studiums beschäftigt habe, blicke er bei Mansfield und Woolf auf „keine große Lesegeschichte“ zurück, die Lektüre der Woolf-Romane habe ihm „große Mühe gemacht“.

Mit dieser Antwort löst Hummelt, wahrscheinlich unbeabsichtigt, auf, was er zu Beginn von 1922. Wunderjahr der Worte problematisiert: Das, was vor 100 Jahren passiert ist, kann heute niemand mehr so genau erzählen. Als Autor kann er nur versuchen, die Welt von damals anhand von Briefen, Augenzeugenberichten und dem Leben seiner Großmutter, die 1922 dreiundzwanzig Jahre alt gewesen ist, nachzuerzählen, wohlwissend, dass Gefühle nur bedingt nacherzählbar und schon gar nicht nachempfindbar sind. Wenn jetzt ein weißer, mittelalter Mann Woolf und Mansfield in eine umfassende Abhandlung über die Literaturszene von 1922 nur einbezieht, weil seine Lektorin das für eine gute Idee hält und er das offen kommuniziert, verweist er darauf, wie schwierig es schon und besonders damals gewesen sein muss, sich in einer derart männerdominierten Welt zu behaupten. Und so, wie Rilke sich der Vergangenheit und Joyce der Zukunft zuwandte, wenden wir uns an diesem Montagabend, mehr als hundert Jahre später, all dem zu, was gewesen ist – und uns dann, im begreifenden Gestus, wieder ab.

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