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„Ich bin nur die Erzählerin meiner Protagonistin.“

Am 09.05.2022 war die Schriftstellerin Judith Hermann zum wiederholten Male zu Gast in Marburg und las aus ihrem Roman Daheim. Dabei enthüllte sie spannende neue Aspekte des Buchs und bot ungewöhnliche private Einblicke.


Moderatorin Friederike Wißmach im Gespräch mit Autorin Judith Hermann


Mit ihrem langersehnten zweiten Roman Daheim begeisterte Judith Hermann die Marburger Literaturszene und lockte nach langer Wartezeit wieder Jung und Alt in das Marburger TTZ. Bereits alle ihre Bücher stellte Hermann hier vor – so war es eine Weiterführung der Tradition, als sie am 9. Mai im großen Saal die Lesung ihres neuen Romans Daheim abhielt.


Judith Hermann, 1970 in Berlin geboren, schloss bereits in jungen Jahren die Berliner Journalisten-Schule ab. Im Jahr 1998 erschien ihr erster, von der Kritik breit gefeierter Erzählungsband Sommerhaus, später, seitdem ist Hermann vor allem für ihre Kurzgeschichten und Erzählungen bekannt. Als sie dann 2014 zum ersten Mal einen Roman mit dem Titel Aller Liebe Anfang präsentierte, fand dieser zunächst wenig positiven Anklang. Dies nun ganz im Gegensatz zu dem 2021 erschienenen Roman Daheim, der durchgängig für seinen Hermann’schen Sound, die melancholische Lakonik und den Reiz des Ungesagten gelobt und schließlich auch für den Preis der Leipziger Buchmesse 2021 nominiert wurde.


Verknüpfung von Alleinsein, Freiheit und Freundschaft

Nach einer kurzen Anmoderation begann im halbvollen Saal des TTZ Hermanns Lesung aus ebendiesem Buch, die insgesamt drei Abschnitte von Anfang, Mitte und Ende des Romans umfasste. Auffällig waren die sehr angenehme Stimme und Sprechmelodie sowie das gelassene Tempo der Autorin beim Lesen, das die abgehackte und reduzierte Sprache des Textes noch betonte. Hermanns Worten zu folgen, fiel niemandem schwer. Nur gelegentliche Lacher und der abschließende Applaus durchbrachen die spannungsgeladene Stille des Publikums.


Im Roman mit dem offenen, aber wohlklingenden Titel Daheim zieht es Hermanns namenlose Protagonistin in den Norden, an die Küste Deutschlands. Er handelt von den großen Fragen nach den eigenen Wurzeln, der Vergangenheit, dem Wert der Erinnerung – alles gebettet in eine friesische Atmosphäre. Die Protagonistin hat ein neues Leben direkt am Meer begonnen, fernab des alltäglichen Trubels und ihrer gescheiterten Ehe, dafür mit großer Nähe zu ihrem Bruder. Alltagsflucht, die Suche nach einer neuen Heimat und die Frage, ob allein sein wirklich auch einsam sein bedeutet, leiten die Gedanken- und Gefühlswelt der Protagonistin. Mit Nachbarin Mimi und deren Bruder Arild, dessen fast (stereo-)typisch norddeutsche Unnahbarkeit eine gewisse Anziehung auf die Protagonistin ausübt, beginnt sie Beziehungen zu schließen, platonische wie romantische, und immer mehr auszubrechen aus ihrem alten Ich, von dem der Beginn des Romans in einer kurzen Episode erzählt.


„Ich schreibe nicht, um Antworten zu geben, sondern um Fragen zu teilen.“


Im an die Lesung anschließenden, von durchdachten Fragen geleiteten Gespräch diskutierten die Moderatorin Friederike Wißmach und das Publikum mit der Autorin verschiedene Deutungsansätze und interessante Stellen des Romans. Dabei drifteten die Themen auch manches Mal vom Buch weg, als Hermann beispielsweise erzählte, dass es ihr ähnlich wie ihrer Protagonistin schwerfiele, ihr Kind selbstständig in die Welt zu entlassen. Sie ergänzte scherzhaft, dass ihre Figur die Situation deutlich besser meisterte als sie selbst.


Im Publikum wurde auch die Frage laut, ob ein Buch immer Antworten auf die Fragen der Leser*innen geben müsse. Mit einem Schmunzeln antwortete Hermann, dass sie nicht schreibe, „um Antworten zu geben, sondern um Fragen zu teilen“. Was die Lesenden mit diesen Fragen anfangen würden, käme ganz auf diese selbst an. Sie möchte, so Hermann weiter, die Fragen ihrer Protagonistin nicht als alleinige Richtlinie sehen und mit ihren eigenen oder denen der Lesenden gleichsetzen. Nicht sie sehe das Geschehen, sondern ihre Figur sehe es unabhängig von ihr: Als Autorin sei Hermann „nur die Erzählerin meiner Protagonistin“ – mit diesem überzeugenden Satz unterstrich sie trotz der auftauchenden Parallelen die Trennung von Autorin und Werk auf explizite Weise.


Erinnerungen und Sehnsuchtsorte

In dem langen, ausführlichen Gespräch mit der Autorin kam außerdem zur Sprache, inwieweit Erinnerungen trügen oder wahr sein können und wie sie diesen Wahrheitsanspruch hielten. Hermann gab zu verstehen, man könne Erinnerungen immer auch anders erzählen – zum Beispiel in der 3. Person oder in Form eines Traumes – und demnach gebe es kein richtig oder falsch; es komme stets auf die Perspektive an. Daran schloss sich die Frage an, ob sich ihr Umgang mit Erinnerungen nach der Fertigstellung des Romans verändert habe. Hermanns Antwort sorgte für kurze Lacher aus dem Publikum: Sie würde es eher „altersbedingte Nachsicht“ nennen, da der Perspektivwechsel nicht den Wunsch in ihr geweckt habe, etwas neu oder gar besser zu machen.


Abschließend beantwortete Hermann die Frage nach der für manche Leser*innen des Buches irreführenden Titelgebung. Wieso heißt der Roman ‚Daheim‘, wenn dieses Wort doch nicht ein einziges Mal im Text selbst auftaucht? Findet die Protagonistin in der einsamen Hütte am Meer im Kreise der restlichen, eher exzentrischen Figuren einen solchen Ort? Die gebürtige Berlinerin Hermann erläuterte, dass ‚Daheim‘ für sie keinen realen „Sehnsuchtsort“ beschreibe, da das Wort im Norddeutschen beziehungsweise im Berliner Sprachgebrauch schlichtweg nicht verwendet werde. Unter der Vorstellung eines ‚Daheim‘ verstehe sie daher etwas Mystisches, einen Ort, den man in sich selbst finden müsse – eine Antwort, die noch viele Fragen offen lässt und einen schönen Abschluss des spannenden Gesprächs mit großer Publikumsbeteiligung bildete.

Cover des Romans Daheim


Unter anhaltendem Applaus endete damit der offizielle Teil der Lesung. Eine besondere Möglichkeit des intensiveren Austausches mit der Autorin bot die anschließende Signierstunde. Schlussendlich fesselte Judith Hermann mit ihrer angenehm ruhigen Art des Vorlesens und ihrer Offenheit, auf alle Fragen einzugehen, und machte den Abend zu einem besonderen Erlebnis für Organisator*innen und Publikum. Über die neuen Einsichten in Hermanns Buch, die aufgeworfenen Fragen und die persönlichen Anekdoten der Autorin wird der ein oder die andere sicherlich noch lange nachdenken.

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