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Ein Abend zwischen Fakt und Fiktion

Aktualisiert: 21. Feb. 2023

Rolf Schönlau las am 23.05.22 aus seiner historischen Fallgeschichte „Die späte Genugtuung des Hermann Schwan“ im Marburger Rathaussaal Marburg im Jahr 1515: Daniel Schwan, angesehener Gastwirt und wohlhabender Kaufmann, wird zum städtischen Baumeister ernannt. Ein verantwortungsvolles Amt, denn damit ist er für den Bau des neuen Marburger Rathauses auf dem Marktplatz zuständig. Als Vater von fünf Kindern und als Politiker in einer turbulenten Zeit wird er im Laufe seines Lebens mit allerlei Kuriositäten und Unglaublichkeiten konfrontiert gewesen sein. Damit, dass ein Spross seiner Familie Jahrhunderte später zum Gegenstand eines Vortrags in dem von ihm geplanten Rathaussaal werden sollte, hätte er aber vermutlich nicht gerechnet.


Der Autor Rolf Schönlau

Mehr als 500 Jahre nachdem Kaufmann Daniel Schwan die Bildfläche der Marburger Stadtpolitik verließ, betrat Rolf Schönlau, Paderborner Autor, Übersetzer und Ausstellungskurator des Weserrenaissance-Museums Lemgo, den historischen Saal des Marburger Rathauses, um einen literarischen Vortrag über Verbrechen, Gefängnisaufenthalt und unsittlichen Lebenswandel des zweitältesten Kaufmannssohnes Hermann Schwan zu halten. Des Ehebruchs und Mordes an seinem Geschäftspartner angeklagt, saß Schwan eine mehr als fünfjährige Gefängnisstrafe zuerst in Frankfurt, dann im Nürnberger Schuldturm ab, ertrug Folter und Demütigung, bis er im Oktober 1548 aus der Haft entlassen wurde.


Das klingt zunächst nach einer recht banalen, nur bedingt zum nägelkauend-auf-der-Stuhlkante-Mitfiebern geeigneten Allerweltsgeschichte. Wäre da nicht die entscheidende Pointe, der überraschende Wendepunkt, der Rolf Schönlau dazu bewegte, den historischen Stoff unter dem Titel Die späte Genugtuung des Kaufmanns Hermann Schwan in eine Fallgeschichte zu verwandeln. Im Grunde sind es sogar zwei Pointen. Die erste: Es besteht aller Grund zur Annahme, dass Kaufmann Hermann Schwan keines der ihm vorgeworfenen Verbrechen jemals begangen hat. Die zweite: Schuld an seiner Misere hat mutmaßlich der hessische Landgraf Phillip I., der in Schönlaus Fallgeschichte weit weniger großmütig wegkommt, als es sein allseits bekannter Beiname glauben machen will. Es scheint, als habe Hermann Schwan etwas über Phillip I. gewusst und sei durch den Gefängnisaufenthalt zum Schweigen gebracht worden.


Es sind historische Geschichten wie diese, die den ehemaligen Ausstellungskurator Rolf Schönlau faszinieren und sich wie ein Leitmotiv durch sein literarisches Schaffen ziehen. Geboren 1950 in Paderborn, studierte er Literaturwissenschaft und Psychologie in Berlin und München und arbeitet seitdem als freier Autor und Übersetzer in Schlangen (Kreis Lippe) und Rom. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem den Literaturpreis der Stadt Georgsmarienhütte (2000) und eine Einladung zum Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb (2004). Kürzlich erschien seine Übersetzung von Gilbert Whites Die Erkundung von Selborne, Beobachtungen eines englischen Naturforschers des 18. Jahrhunderts, außerdem die Novelle Oscar Welde, die sich mit Leben und Wirken des Anwalts Otto Dresel befasst, der sich als Redakteur der revolutionären Zeitschrift Die Wage einen Namen machte. Dieses Jahr erscheint in gemeinsamer Herausgeberschaft mit der Marburger Universitätsprofessorin Dr. Hania Siebenpfeiffer ein Band zur „Great Moon Hoax“ – einer Serie von Zeitungsenten, die 1835 in der New York Sun veröffentlicht wurden.


Was Schönlau an der Arbeit mit historischen Stoffen so begeistert, ist laut eigener Aussage „das Eintauchen in eine vollkommen andere Zeit“. Für Vortrag und Fallgeschichte über die Verwicklungen zwischen Landgraf Phillip I. und Kaufmann Hermann Schwan habe er sich hauptsächlich auf Forschungsergebnisse des Gymnasialprofessors Dr. Eberhard Wintzer sowie weitere schriftliche Quellen, wie beispielsweise Schwans Auftritt beim Nürnberger Reichstag 1543, gestützt. An dem konkreten Fall habe ihn besonders interessiert, wie die Verbindung zwischen zwei Männern vollkommen unterschiedlicher Lebenswelten zustande kam, die sich „vermutlich nie persönlich begegnet sind, sondern nur im Rechtsstreit miteinander in Verbindung standen“.


Wiebke Lundius führte fachkundig durch den Abend

Die sich an Schönlaus Auftritt im Marburger Rathaussaal anschließende, von Dr. Wiebke Lundius moderierte Diskussionsrunde, offenbarte ein interessiertes Fachpublikum und stellte Fragen nach dem Fiktionsgehalt der historischen Fallgeschichte, die der Autor, wohl nicht zum ersten Mal, dezidiert zu beantworten wusste: Dass Phillip I. durch letztlich unhaltbare Mordvorwürfe Hermann Schwan aus dem Weg schaffen wollte, sei geschichtlich verbürgt. Warum der Landgraf den Kaufmann allerdings so unnachgiebig verfolgte, gehe über die gesicherte Faktenlage, „das Feld der storia“, hinaus und führe „in das Reich der story“ – auf den Spielplatz des Autors als Geschichtenerzähler, dorthin, wo Literatur entsteht. Es könnte also so, aber vielleicht auch ganz anders gewesen sein – und das ist vermutlich Schönlaus wertvollste Botschaft am Abend der Lesung im historischen Marburger Rathaussaal.

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